„Wir brauchen mehr Platz fürs Rad zu Lasten des Autoverkehrs“
ADFC-Vorstandsmitglied Dirk Hillbrecht über die Radverkehrspolitik in der Landeshauptstadt

ROTER FADEN: Stadtverwaltung und Kommunalpolitik wollen den Radverkehr im Zuge der Verkehrswende fördern. Wird in unserer Stadt tatsächlich genug für Radler*innen getan?

Dirk Hillbrecht: Die Verwaltung macht durchaus progressivere Vorschläge als früher. Es kommen bessere Entwürfe und Drucksachen. Diese werden aber durch politische Einflussnahme verwässert. Der Mehrheitskoalition im Rat gehört ein SPD-Fraktionsvorsitzender an, der sich erst vor einiger Zeit in der Diskussion um autoarme Wohnquartiere wieder als Retter der vermeintlich verfolgten Automobilgesellschaft in Szene gesetzt hat.

Können Sie ein aktuelles Beispiel zum Radverkehr nennen?

Das geplante Veloroutennetz macht nur Sinn, wenn diese Radwege bestimmte Mindeststandards erfüllen. Einer davon ist: Das Veloroutennetz muss durchgängig sein. Wenn ich auf diesen Wegen fahre, muss ich sicher sein können, dass ich bis zum Ende durchfahren kann und mich nicht irgendwann fragen muss, wo es langgeht. Dafür muss man aber auch bereit sein, gerade an größeren Kreuzungen unter Umständen den Verkehr deutlich anders zu regulieren. Das ist politisch immer noch extrem schwer durchzusetzen.

In Bemerode macht der Bezirkstrat seit Monaten Front gegen die sinnvolle Führung der Veloroute 6 durch die Alte Bemeroder Straße, weil ein ansässiger Getränkehändler weiter seine Autos auf der Straße parken will. Die Politik macht sich zum Büttel solcher Einzelinteressen. Es muss der Wille da sein, ein durchgehendes Veloroutennetz herzustellen. Im Zweifel muss dann auch mal eine Fahrspur wegfallen, oder Parkplätze müssen weichen, weil der zur Verfügung stehende Platz begrenzt ist.

Mit solchen Positionen bringen Sie viele Autofahrer*innen „auf die Palme“. Das merken auch die Politiker*innen.

Laut Verkehrszählungen hat der Radverkehr unter der Woche in Hannover deutlich zugenommen. Das Rad wird als Alltagsverkehrsmittel immer wichtiger. Dieser Trend wird in Zukunft noch zunehmen. Darauf muss die Radverkehrsinfrastruktur ausgerichtet sein. Das heißt: Wir brauchen mehr Platz fürs Rad, weil die Leute mehr Fahrrad fahren. Es muss zwingend zu Lasten des Kfz-Verkehrs gehen, weil der bisher den meisten Platz beansprucht. Schon im Straßenverkehrsrecht gilt: Fließender Verkehr hat Vorrang vor ruhendem Verkehr. Deshalb darf der Wegfall von Parkplätzen niemals ein Argument gegen den Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur sein.

Die Velorouten sind nur ein kleiner Teil des gesamten Radwegenetzes. Welche Schwachstellen sieht der ADFC abseits der Velorouten?

Häufig sind die sogenannten Schutzstreifen anzutreffen, etwa auf der Podbielskistraße oder Königstraße. Ich halte die roten Streifen ohne Ausnahme für eine gefährliche Mogelpackung. Sie geben dem Radverkehr erstens zu wenig Platz. Zweitens suggerieren sie allen Verkehrsteilnehmern, dass der Radverkehr dort zu fahren hat und man ihn außerhalb dieses Streifens quasi beliebig überholen darf. Das ist nicht nur hochgradig gefährlich, sondern auch verboten, wenn es zu eng ist. In der Fassung der Straßenverkehrsordnung von 2011 stehen die Mindestabstände, die beim Überholen einzuhalten sind, ausdrücklich drin: 1,50 Meter sowie 2 Meter bei Lastenrädern, Rädern mit Anhänger und Kindern.

Wie schädlich Schutzstreifen sein können, sieht man besonders deutlich in der Wedekindstraße, die erst vor ein paar Jahren umgestaltet wurde. Früher gab es auf dem entsprechenden Abschnitt Hochbordradwege, die allerdings sehr schmal waren, und teilweise schutzstreifenartige Seitenanlagen. Alles nicht so toll, ging meines Erachtens aber besser als das, was wir heute haben.  Die Fahrbahn ist deutlich schmaler geworden, auf die dann noch die Schutzstreifen aufgepinselt wurden mit parkenden Autos auf der rechten Seite. Radfahrer müssen auf einem viel zu schmalen Schutzstreifen fahren und sind in ständiger Gefahr, mit zu geringem Abstand überholt oder durch eine sich öffnende Autotür umgehauen zu werden.

Die Wedekindstraße ist heute aus allen Netzplänen verschwunden, weil man da nicht mehr vernünftig Fahrrad fahren kann. Wir hatten seinerzeit als ADFC davor gewarnt. Man hätte das vermeiden können, wenn man die Zahl der Parkplätze verringert und das Parken nur auf einer Straßenseite erlaubt hätte. Dann wäre genug Platz für eine vernünftige Radverkehrsanlage gewesen.

Sie erwähnten die Königstraße. Was sollte Ihrer Meinung nach geschehen, damit die Radler*innen dort sicher fahren können?

Erforderlich ist eine andere Regulierung des Verkehrs. Der Kfz-Durchgangsverkehr müsste raus, Tempo 30 auf der gesamten Stecke und ein Überholverbot für einspurige Fahrzeuge.

Sie wollen Autofahrer*innen das Überholen von Radfahrenden verbieten? Das werden einige, die es eilig haben, nicht gut finden.

Wenn man nicht überholt, ist der Zeitverlust gering. Abgesehen davon, ist das Argument Geschwindigkeit vor Sicherheit für mich keine Grundlage für eine Diskussion. Auch andere Verhaltensweisen, die sich im Gewohnheitsrecht eingeschliffen haben, müssen viel stärker als bisher auf den Prüfstand. Dazu gehört halbhohes Parken, obwohl es nicht erlaubt ist, das Zuparken von Rad- und Fußwegen, weil sonst kein Platz da ist, oder ein bestimmter Fahrweg, weil man da schon immer langgefahren ist.

Nach mehreren Jahren Pause will die Stadt wieder Fahrradstraßen einrichten.

Das ist gut, gerade in verdichteten Wohnvierteln - und weil die Stadt per Gerichtsbeschluss dazu angehalten ist, auf Kriterien zu achten, die so eine Straße auch wirklich zu einer Fahrradstraße machen. Man muss nebeneinander fahren können, und es muss dann auch noch jemand daran vorbeikommen können. Es gibt mit der Edenstraße ein Beispiel, wo die Stadt eine alte Fahrradstraße aufgemotzt hat: mit einer Diagonalsperre in der Mitte, komplett neu asphaltiert und ausgeschildert – eine extreme Verbesserung gegenüber den früheren Zuständen. So etwas nützt dem Radverkehr wirklich, solche Radwege brauchen wir.

Auf der anderen Seite will man die Fahrradstraße Große Barlinge in der Südstadt wieder aufheben, weil die Kriterien angeblich nicht einzuhalten sind. Das ist sehr unerfreulich, weil diese Straße eine zentrale Achse mitten im Wohngebiet ist. Man könnte das Problem beheben, indem man dem fließenden Verkehr mehr Platz gibt. Dafür müssten, wie so oft, Parkplätze entfallen. Ich appelliere an die Politik, sich des Themas anzunehmen.

Dirk Hillbrecht ist Vorstandsmitglied des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) in Hannover. Er kennt die Radverkehrspolitik auch aus seiner Zeit als Ratsherr der Piraten zwischen 2011 und 2016. Die damaligen Diskussionen im Bauausschuss waren für ihn „häufig kaum auszuhalten“.